Studien deuten auf erhöhtes Krebsrisiko unter Therapie mit Insulin glargin (Lantus®) hin

01.07.2009 18:48 (zuletzt bearbeitet: 01.07.2009 18:51)
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Ev
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Aktuell wurden vier Studien zum Zusammenhang zwischen der Gabe von Humaninsulinen bzw. Insulinanaloga und dem Krebsrisiko veröffentlicht, die zu einer Beunruhigung sowohl der Fachkreise als auch von Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus unter Insulinbehandlung geführt haben.


Eine Kohortenstudie aus Deutschland hat anhand der Daten von ca. 127.000 AOK-Versicherten mit Diabetes mellitus (überwiegend Typ 2) das Risiko einer Krebserkrankung bei Patienten untersucht, die entweder mit Humaninsulin (n = 95.804) oder einem Insulinanalogon (Aspart (n = 4.103), Lispro (n = 3.269) oder Glargin (n = 23.855)), in der Mehrzahl in Kombination mit einem oralen Antidiabetikum, behandelt wurden (1). Nach einer mittleren Beobachtungszeit von 1,63 Jahren zeigte sich eine deutliche Assoziation zwischen der Gabe von Insulin und dem Krebsrisiko, unabhängig vom Insulintyp. Patienten mit einer Kombinationstherapie aus verschiedenen Insulinen wurden nicht in die Studie eingeschlossen. Dadurch waren die mittleren Tagesdosen in der Glargin-Gruppe wesentlich niedriger als in der Humaninsulin-Gruppe. Nach Adjustierung für die Dosis zeigte sich für das langwirkende Insulinanalogon Insulin glargin eine dosisabhängige Erhöhung des Krebsrisikos gegenüber Humaninsulin (HR 10 IU 1,09 (95% CI 1,00–1,19); 30 IU 1,19 (95% CI 1,10–1,30); 50 IU 1,31 (95% CI 1,20–1,42)). Dieser Befund ergab sich jedoch nicht für die schnell wirkenden Insulinanaloga Aspart und Lispro, möglicherweise infolge der geringeren Fallzahl.

Als wesentliche Einschränkungen für die Interpretation der deutschen Studie wurden u.a. die fragliche biologische Plausibilität aufgrund der kurzen Beobachtungszeit sowie fehlende Informationen zum Body Mass Index und zu der Art der Tumorerkrankungen angeführt (2). Um die Ergebnisse dieser Studie zu verifizieren, wurden Wissenschaftler aus Schweden und Schottland um die Durchführung von weiteren epidemiologischen Studien anhand deren Registerdaten gebeten, die zusammen mit der oben genannten Studie publiziert wurden.

Die schwedische Studie mit etwa 115.000 mit Insulin behandelten Patienten zeigte kein erhöhtes allgemeines Krebsrisiko. Allerdings ergab sich ein knapp verdoppeltes Brustkrebsrisiko bei Frauen unter Monotherapie mit Insulin glargin (n = 2.595) gegenüber Therapie mit anderen Insulinen (n = 36.532, RR = 1,99; 95% CI 1,31–3,03) (3). Für Patientinnen, die mit einer Kombination aus Insulin glargin und einem anderen Insulin behandelt wurden (n = 8.649), zeigte sich kein erhöhtes Brustkrebsrisiko. Die Probanden unterschieden sich zwischen den Gruppen stark, was die Interpretation des direkten Vergleichs einschränkt. Außerdem wurde keine Adjustierung für die jeweilige Insulindosis vorgenommen.

Eine Studie aus Schottland hat etwa 49.000 mit Insulin behandelte Patienten hinsichtlich des Krebsrisikos untersucht (4). Dabei war das Krebsrisiko von Patienten, die Insulin glargin allein oder in Kombination mit anderen Insulinen erhielten, gegenüber solchen ohne Insulin glargin nicht erhöht. Jedoch zeigte sich bei einer kleinen Untergruppe von Patienten mit einer Glargin-Monotherapie (n = 447) eine insgesamt höhere Inzidenz an Krebserkrankungen als bei Patienten, die ausschließlich andere Insuline erhielten (HR 1,55; 95% CI 1,01–2,37). Dieser Effekt war im Wesentlichen auf eine Häufung von Brustkrebsfällen zurückzuführen. In einer weiteren Vergleichsgruppe, die eine Kombination aus Insulin glargin und anderen Insulinen bekommen hat, zeigte sich kein gesteigertes Krebsrisiko im Vergleich zu anderen Insulinen. Einschränkend muss bei dieser Studie festgestellt werden, dass das erhöhte Risiko bei Patienten in der Insulin glargin-Gruppe auf nur 6 Patientinnen zurückzuführen ist, bei denen sich Brustkrebs gezeigt hat. Darüber hinaus unterscheiden sich die Probanden zwischen den Gruppen stark, was die Interpretation des direkten Vergleiches einschränkt. Es wurde auch hier keine Adjustierung für die jeweilige Insulindosis vorgenommen.

In einer weiteren britischen Studie, die etwa 63.000 Patienten mit Diabetes mellitus aus der kommerziellen THIN-Datenbank (The Health Information Network) nachverfolgt hat, zeigte sich für Behandlung mit Insulinanaloga (n = 4.769) kein erhöhtes Krebsrisiko gegenüber Humaninsulin (n = 10.067) (5). Verglichen mit Metformin erhöhte eine Insulintherapie das Risiko von kolorektalen Tumoren (HR 1,69; 95% CI 1,23–2,33) und Pankreaskarzinomen (HR 4,63; 95% CI 2,64–8,1), nicht jedoch von Brust- oder Prostatakarzinomen. Auch in dieser Studie konnte keine Adjustierung für die jeweilige Insulindosis vorgenommen werden.

Auch wenn diese aktuellen epidemiologischen Daten nicht zu übereinstimmenden Ergebnissen hinsichtlich des Krebsrisiko in Verbindung mit Insulin glargin kommen, erscheinen vor dem Hintergrund der an Zelllinien nachgewiesenen mitogenen, anti-apoptotischen und proliferativen Effekte von Insulinanaloga (6;7) die epidemiologischen Befunde biologisch plausibel. Es soll an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen werden, dass diese und andere mechanistische Befunde eine Beschleunigung des Wachstums vorhanderener (prä)kanzeröser Läsionen als möglichen Wirkmechanismus nahe legen, dass jedoch keine Tumor-iniitiierende Wirkung des Insulins vorliegt (8;9).

Auf die Notwendigkeit einer differenzierten Indikationsstellung für Insulin glargin hat die AkdÄ bereits 2001 im Wirkstoff Aktuell zu diesem Arzneimittel hingewiesen (10). Bei dem insgesamt geringen Zusatznutzen gegenüber der Behandlung mit anderen Verzögerungsinsulinen ist aus unserer Sicht eine Neubewertung des Nutzen-Risiko-Profils von Insulin glargin notwendig (11). Derzeit werden die aktuellen Studien zusammen mit weiteren wissenschaftlichen Daten einer sorgfältigen Prüfung, unter anderem durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMEA), unterzogen (12).

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht aus Sicht der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) kein unmittelbarer Handlungsbedarf im Sinne einer Therapieänderung. Eine Neueinstellung von Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 auf Insulin glargin sollte derzeit jedoch nicht erfolgen. Weiterhin sollten alternative Insulintherapien mit Humaninsulin bei Patienten mit Tumorerkrankungen sowie bei verunsicherten Patienten frühzeitig in Betracht gezogen werden. Die AkdÄ rät Patientinnen und Patienten, das ihnen verordnete Insulin auf keinen Fall eigenmächtig abzusetzen oder die Dosis unkontrolliert zu vermindern, sondern sich mit dem behandelnden Arzt in Verbindung zu setzen.

Literatur

1. Hemkens LG, Grouven U, Bender R et al.: Risk of malignancies in patients with diabetes treated with human insulin or insulin analogues: a cohort study: http://www.diabetologia-journal.org/canc...ectedproofs.pdf. Diabetologia 2009; Epub: 26. Juni 2009.
2. Smith U, Gale EAM: Does diabetes therapy influence the risk of cancer?: http://webcast.easd.org/press/glargine/download /090831Smith2ndproofs.pdf. Diabetologia 2009; Epub: 26. Juni 2009.
3. Jonasson JM, Ljung R, Talbäck M et al.: Insulin glargine use and short-term incidence of malignancies-a population-based follow-up study in Sweden: http://www.diabetologia-journal.org/canc...ceptedpaper.pdf. Diabetologia 2009; Epub: 26. Juni 2009.
4. SDRN Epidemiology Group: Use of insulin glargine and cancer incidence in Scotland: A study from the Scottish Diabetes Research Network Epidemiology Group: http://www.diabetologia-journal.org/canc...ceptedpaper.pdf. Diabetologia 2009; Epub: 26. Juni 2009.
5. Currie CJ, Poole CD, Gale EAM: The influence of glucose-lowering therapies on cancer risk 5 in type 2 diabetes: http://www.diabetologia-journal.org/canc...ed1stproofs.pdf. Diabetologia 2009; Epub: 26. Juni 2009.
6. Weinstein D, Simon M, Yehezkel E et al.: Insulin analogues display IGF-I-like mitogenic and anti-apoptotic activities in cultured cancer cells. Diabetes Metab Res Rev 2009; 25: 41-49.
7. Mayer D, Shukla A, Enzmann H: Proliferative effects of insulin analogues on mammary epithelial cells. Arch Physiol Biochem 2008; 114: 38-44.
8. Hanahan D, Weinberg RA: The hallmarks of cancer. Cell 2000; 100: 57-70.
9. Holly JM, Perks CM: Cancer as an endocrine problem. Best Pract Res Clin Endocrinol Metab 2008; 22: 539-550.
10. Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Insulin glargin (Lantus®). Dtsch Arztebl 2001; 98: Wirkstoff aktuell 03/2001.
11. Singh SR, Ahmad F, Lal A et al.: Efficacy and safety of insulin analogues for the management of diabetes mellitus: a meta-analysis. CMAJ 2009; 180: 385-397.
12. EMEA: European Medicines Agency update on safety of insulin glargine: http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs.../40847409en.pdf. Press Release vom 29. Juni 2009.


Quelle:
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
Herbert-Lewin-Platz 1
10623 Berlin

Postfach 12 08 64
10598 Berlin




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