Neue Biologika: Brauchen wir sie wirklich?

13.10.2009 06:51 (zuletzt bearbeitet: 13.10.2009 06:53)
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Ev
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Biologika sind gentechnisch erzeugte Eiweißsubstanzen, die bei einer Reihe von Autoimmunerkrankungen wie etwa der rheumatoiden Arthritis (RA) zum Einsatz kommen. Mit der Markteinführung des IL-6-Rezeptors Tocilizumab (RoACTEMRA®) bei mäßiger bis schwerer RA sind nun sechs Biologika in Österreich zugelassen. Die LITHE-Studie zeigt nicht nur, dass die fortschreitende Gelenksdestruktion von Tocilizumab gehemmt wird, sondern bestätigt auch eine signifikante Remissionsrate unter der Behandlung.


Die rheumatoide Arthritis stellt die häufigste entzündliche Erkrankung des rheumatischen Formenkreises dar und kann sich in jedem Alter, am häufigsten jedoch zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr manifestieren. Als systemische Autoimmunerkrankung nimmt sie bei einem Großteil der Betroffenen einen chronischen Verlauf, der häufig in ausgeprägter Gelenkzerstörung und funktioneller Behinderung und damit verbun-den in einer Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit mündet. Gerade bei einer Erkrankung mit so hohen volkswirtschaftlichen Folgen sollten daher neue medizinische und pharmaökonomische Erkenntnisse bei der Therapiewahl berücksichtigt werden, so Prim. Doz. Dr. Ludwig Erlacher, SMZ Süd Wien. Patienten mit rheumatoider Arthritis profitieren am meisten von einer möglichst frühzeitigen Therapie mit dem Ziel der Remission. Wie Erlacher betonte, ist das sogenannte „window of opportunity“ innerhalb der ersten drei Monate anzusetzen. Dank Früherkennung und dem Einsatz von Biologicals sieht man schwerste Gelenksdeformitäten heute kaum mehr.

Eine breite Umsetzung dieser „modernen Behandlung“ ist sowohl aus medizinischer wie auch ökonomischer Sicht sinnvoll, da nur ein Zusammenspiel von exakter Diagnosestellung und rechtzeitiger, dem Stand der Wissenschaft entsprechender Behandlung eine Minimierung von Folgeschäden mit den bekannten medizinischen und ökonomischen Konsequenzen gewährleisten kann.

Wichtig ist dabei, dass bei Nichtansprechen auf eine bestimmte Therapie ein rechtzeitiger Wechsel auf effektivere Arzneimittelsubstanzen stattfinden. Wird bei Patienten trotz intensiver Vortherapie mit einem klassischen DMARD, wie Methotrexat oder Leflunomid, nach drei Monaten keine Remission erreicht (bei mehr als der Hälfte der Patienten ist dies der Fall), kann eine sofortige Umstellung auf ein Biologikum sinnvoll sein.

TNF-Blocker sind die entscheidende Innovation in der Behandlung der RA. TNF-alpha-Blocker wie Infliximab (Remicade®), Etanercept (Enbrel®) und Alalimumab (Humira®) hemmen den körpereigenen Botenstoff TNF-alpha. Heute besteht langjährige Erfahrung im Einsatz mit TNF-Blockern, die in der Rheumatologie in die Medikamentenklasse der krankheitskontrollierenden Substanzen fallen. Die Wirksamkeit der drei derzeit verfügbaren TNF-Blocker ist vergleichbar, wenn auch klinisch relevante Unterschiede vorliegen. TNF-Blocker sind unter strikter Observanz von Rheumatologen, trotz des erhöhten Infektionsrisikos inklusive Tuberkulose in den ersten Wochen der Anwendung weitgehend sichere, aber relativ teure Medikamente, meinte Erlacher. Allerdings sprechen 30–55% der Patienten auf TNF-Blocker nicht ausreichend an.

Die Lösung?

Die neuen Biologika sind keine „Me-too“- Medikamente. Sie sind sowohl aus medizinischer als auch ökonomischer Sicht dringend notwendige Innovationen, da ja bis zu 50% aller Patienten unter TNF-Blockern nicht das Therapieziel erreichen. Mit anderen Ansatzpunkten in der immunologischen Kaskade soll der RA Einhalt geboten werden: wie bei Rituximab durch die selektive Depletion der B-Zellen, bei Abatacept durch die selektive Hemmung der Lymphozythenaktivierung oder bei dem jüngst am Markt erschienenen IL-6-Antikörper Tocilizumab (RoACTEMRA®), dessen Wirkung sich über die Hemmung des IL-6-Rezeptors erklärt.

IL-6: das logische Zielmolekül

Tocilizumab ist in Japan seit 2005 zur Behandlung des Morbus Castleman und seit Anfang 2008 bei rheumatoider Arthritis zugelassen. Der Wirkstoff greift mit einem bisher innovativen Wirkmechanismus in das Zytokinnetzwerk ein und unterbindet den chronisch entzündlichen Prozess. Die hemmende Wirkung von IL-6 erfolgt durch die Bindung des Antikörpers an den IL-6-Rezeptor. Damit wird die Bindung von freiem IL-6 an seinen Rezeptor verhindert, in Folge bleibt das Signal an die Zielzelle aus. Tocilizumab unterbricht die IL-6-Signalwege sowohl durch die Blockade der membrangebundenen als auch der löslichen IL-6-Rezeptoren.

Inflammation: die Verbindung zwischen Herz und RA

Darüber hinaus hat IL-6 zahlreiche Nebeneffekte auf Zellen, die nicht zum Immunsystem zählen.
IL-6 induziert die CRP-Produktion in der Leber. CRP wiederum hat selbst proinflammatorische Eigenschaften und ist an der endothelialen Dysfunktion beteiligt. Hierin bestehen vermutlich auch die Berührungspunkte von entzündlich-rheumatischen und kardiovaskulären Erkrankungen. Konkret geht ein anhaltend erhöhtes CRP auch bei gesund erscheinenden Patienten mit einem erhöhten Myokardinfarkt-Risiko einher.

Dozent Erlacher bestätigte, dass RA-Patienten 8–10 Jahre früher versterben. Die RA ist mit einer gesteigerten kardiovaskulären Morbidität und Mortalität verbunden. Seit Jahren sind diverse proinflammatorische Mediatoren Gegenstand von Studien, in denen ihre mögliche Rolle als Risikofaktoren der KHK erforscht wird. Als mögliche Risikofaktoren und Biomarker für die KHK kommt eine Reihe von Zytokinen infrage. Das wichtigste prokoagulatorische Zytokin ist IL-6. Es hat einen direkten Einfluss auf Fibrinogen, Plasminogen-Aktivator-Inhibitor (PAI) Typ 1 und die CRP-Sekretion. 2007 zeigten Lee WY et al (Lee WY et al, Am J Cardiol 2007, 99(1): 99), dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen IL-6 und subklinischer Atherosklerose, unabhängig von traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren, gibt.

Wie die Daten der OPTION(TOcilizumab Pivotal Trial in Methotrexate Inadequate respONders)-Studie mit 623 RA-Patienten belegen, führte eine IL-6-Rezeptorblockade mit Tocilizumab (8mg/kg + MTX) bereits nach zwei Wochen zu normalen CRP-Werten (Smolen J et al, Ann Rheum Dis 2007; 66 [Suppl. II]: OP0117).

Remissionsrate von 47% nach 52 Wochen

Die Daten der Phase-III-Studien OPTION (Smolen JS et al, Lancet 2008; 371: 987) LITHE (Kremer JM et al, ACR 2008, Abstract L14) und TOWARD (Genovese MC et al, Arthritis Rheum 2008; 58: 2968) zeigen nicht nur deutliche Verbesserungen unter der Therapie, sondern auch eine Krankheitsremission (DAS28<2,6) bei rund einem Drittel der mit Tocilizumab behandelten RA-Patienten nach 24 Wochen. Die LITHE-1-Jahresdaten belegen darüber hinaus eine Remission bei nahezu der Hälfte (47%) aller behandelten Patienten. Bei den Daten zur Wirksamkeit von Tocilizumab handelt es sich um die 24-Wochen-Daten (OPTION, TOWARD) bzw. 52-Wochen-Daten (LITHE). In der OPTION-Studie wurde gezeigt, dass es bei Patienten, die Tocilizumab (8mg/kg alle 4 Wochen) + MTX erhielten, deutlich häufiger zu einer Verbesserung in den Effektivitätsparametern ACR20, ACR50 und ACR70 kam als in der Kontrollgruppe (Placebo+MTX) (59%, 44%, 22% vs. 26%, 11%, 2%). Ähnlich waren die Ergebnisse in der TOWARD-Studie, bei der u.a. die Wirksamkeit von Tocilizumab in Verbindung mit DMARDs bei RA-Patienten im Vergleich zur Behandlung mit Placebo + DMARDs untersucht wurde. Im Vergleich zur Kontrollgruppe (ACR20: 25%, ACR50: 9%, ACR70: 3%) wurde unter Tocilizumab (ACR20: 61%, ACR50: 38%, ACR70: 21%) deutlich häufiger eine Verbesserung der Symptome festgestellt.

Die auf dem ACR 2008 in San Francisco präsentierte Einjahresanalyse der LITHE-Studie untermauert die bisherigen Remissionsdaten mit Tocilizumab in verschiedenen RA-Patientenkollektiven. In der Einjahresphase der LITHE-Studie erhielten Patienten mit mäßig schwerer bis schwerer RA und einem unzureichenden Ansprechen auf MTX (MTX-IR) randomisiert, doppelblind MTX + 4mg oder 8mg/kg Tocilizumab parenteral alle vier Wochen. Bei einem beeindruckend höheren Prozentsatz der mit Tocilizumab (8mg/kg) behandelten Patienten im Vergleich zu den ausschließlich mit MTX therapierten Patienten konnte eine klinische Remission (DAS28<2,6) verzeichnet werden (47% vs. 8%). Ebenso signifikant sind die Daten hinsichtlich der Symptomverbesserung: Nach 52 Wochen erzielten 56% der Patienten mit einer Tocilizumab-Therapie (8mg/kg) eine 20%ige Verbesserung der Symptome (ACR50: 36%, ACR70: 20%; p≤0,001)), verglichen mit 25%, 10% und 4% in der Kontrollgruppe (Abb.). Die Analyse der radiologischen Daten belegte eine signifikante Hemmung der Gelenkschäden für Patienten in beiden Tocilizumab-Dosierungen im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Einen ähnlichen Benefit für Tocilizumab zeigten die Ergebnisse der RADIATE-Studie, in der die Effektivität von Tocilizumab + MTX bei Patienten mit aktiver RA trotz vorhergehender Anti-TNF-Behandlung untersucht wurde. Hier zeigte sich in einer ITT-Population mit 489 Patienten, dass in der 8mg/kg-Gruppe der Anteil der Patienten, die eine Remission (DAS28<2,6) erreichten, kontinuierlich bis auf 30,1% in Woche 24 anstieg.

Beeindruckend sind die Ergebnisse einer 24-wöchigen Substudie an Patienten, die auf drei verabreichte TNF-Antagonisten (Etanercept, Infliximab, Adalimumab) nicht ansprachen. So betrug in der Gruppe mit einer Tocilizumab-Therapie (8mg/kg + MTX) die ACR20-Response nach einmaligem Anti-TNF-Versagen 48,9%, nach zweimaligem Versagen 50,0% und nach dreimaligem Versagen 53,8%.

Direkter Vergleich mit MTX

Auch die AMBITION-Studie (Actemra versus Methotrexate double-Blind Investigative Trial In mONotherapy), eine doppelblinde Phase-III-Studie über 24 Wochen mit 673 RA-Patienten, die sechs Monate zuvor nicht mit MTX behandelt worden waren, überrascht. Die Patienten erhielten randomisiert entweder 8mg/kg Tocilizumab alle vier Wochen oder aufsteigende MTX-Dosen von 7,5 bis 20mg/Woche. Nach 24 Wochen wurde ein Ansprechen nach ACR20 (primärer Endpunkt) bei 71% der Tocilizumab-Patienten und bei 52% der MTX-Patienten dokumentiert. Diese Überlegenheit zeigte sich auch bei den ACR50- und ACR70-Kriterien (Jones G et al, EULAR 2008, Abstract OP0131). Tocilizumab ist somit das erste Biologikum, das als Monotherapie im direkten Vergleich MTX überlegen ist. Das Sicherheitsprofil von Tocilizumab ist in allen durchgeführten Phase-III-Studien einheitlich. Die häufigsten schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen waren schwere Infektionen.

Ja, wir brauchen die Neuen

Derzeit gibt es keinen Algorithmus für den Biologikaeinsatz, erklärte Erlacher. Man habe jedoch mit allen Biologicals eine zumindest 25%ige Chance auf eine nachhaltige Verbesserung der RA. Leider gibt es unter den Biologicals keine doppelblind randomisierten kontrollierten Head-to-Head-Vergleiche, bedauerte der Rheumatologe. Auch ist es momentan so, dass nach MTX-Versagen zumeist TNF-Blocker eingesetzt werden, da hier die längste Erfahrung vorliegt. Gewiss bieten diese aufgrund der Erfahrung in der breiten Anwendung, des raschen Wirkungseintritts und der vorhandenen Sicherheitsdaten Vorteile. Bei Tocilizumab handelt es sich jedoch um einen neuen Wirkmechanismus und das klinische Ansprechen, insbesondere die DAS-Remissionsraten, sind in allen Studien beeindruckend hoch. Darüber hinaus ist es das erste Biologikum, dessen Wirksamkeit selbst als Monotherapie jener von MTX überlegen ist.

In Zukunft ist mit der Zulassung weiterer Biologika zu rechnen. Auch in der Darreichungsform (bisher S. Coder iv.) wird sich einiges ändern. Ab 2014 rechnet man mit der Einführung von sogenannten „small molecules“, die auch oral verabreichbar sein werden.


Quelle:
Neue Biologika: Brauchen wir sie wirklich?:
Journalistenworkshop, Agentur Welldone
ort090446

Autor:
Dr. Christine Dominkus


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